Texte von Helga Frien

Die Chance

    Sie sitzen da und warten. Dass hier jemand auf die Bühne tritt. Jemand Besonderes. Grandioses. Geniales. Und dann sehen Sie mich. Ich habe das Raunen gehört. Da vorn, Sie. Ja, Sie mit der bunten Krawatte. „Wer ist denn das?“ haben Sie gesagt. Mit einem Unterton... ich habe es rausgehört. Verächtlich. Das schmerzt. Wissen Sie, nicht die Frage, der Ton verletzt.

Sie könnten mal raten, wer ich bin. Dass ich hier so einfach aus dem Vorhang herauskomme. Der Beleuchter könnte ich sein? Und wozu sollte ich hier herauskommen? Na, stimmt, ich könnte auch mal ins Licht treten wollen. So wie ich es jetzt tue, mit einer gewissen Dramatik. So eins, zwei, drei! Sie denken, ich habe mich auf die Bühne verlaufen? Nein, nein. Ich kenne mich zu gut aus. Verlaufen? Noch nicht einmal im Wald. Die Dame ganz links meint, ich sei ER! Ich tarne mich mit Ungeschick. Mit einer Maske. Welch eine Phantasie! Ich, der Besondere. Ich, die Hauptperson? Ein schöner Gedanke. - Ich bin es nicht. Nur für mich, für mich bin ich die Hauptperson. Ich mag mich. Sie lachen. Ich verstehe nicht, was es da zu lachen gibt. Sind Sie sich nicht die Hauptperson? Dann geht es Ihnen schlecht. Sie sind in übler Gesellschaft. Ich bin da ganz anders, ich sorge für mich. Ja, ja. - Sie sind wirklich ein albernes Publikum. Immer nur lachen! Ich weiß nicht, warum ER unbedingt auf die Bühne wollte. Nur um Sie zu sehen? Na, ich danke. Ich kenne Sie kaum, aber Sie zeigen sich von einer sehr... sehr... sagen wir... unebenen Seite. Freiwillig wäre ich nicht hier. Freiwillig nie! Aber ich muss. Sie sind meine Chance. Sehen Sie, wieder dieses Lachen. Es zieht herab. Wie Ihre Gedanken, Ihre Blicke. Die rutschen an mir von oben herunter. Stocken an meinem Hemdenkragen. Na, und? Glauben Sie, ich weiß nicht? Ein wenig Schmutz. Wen stört das schon. Der Knopf ist heute erst abgesprungen. Wie ein Floh. Dann ist er über den Bürgersteig gerollt, eine Kurve, und zack, in den Gully. Aber Sie werden feststellen, es gibt einen Moment, da wird Sie nichts davon mehr stören, gar nichts, auch nicht meine fehlenden Bügelfalten oder die Fransenränder. Das kommt mit der Zeit!

    Ich brauche die Chance. Mehr als Sie. Sie in Ihren feinen Anzügen, mit Ihrem Flitter und Ihren Klunkern. Sie brauchen nichts. Sie haben doch alles, Geld, Ansehen und Ruhe. Vor allem Ruhe. Die kann man sich kaufen. Ein Haus im Grünen - in Ruhe. Ein First-Class-Auto - Ruhe. Bedienstete, die Sie verwöhnen - Ruhe. Ruhe, Ruhe, Ruhe. Sie merken, wie langweilig das ist? Sie sollten das ändern. Ein wenig Spannung wird Ihnen gut tun. Und wenn ich Ihnen diese Spannung beschaffe? Sie geben mir dann ein wenig von Ihrem Wohlstand. Ein guter Tausch, nicht wahr? Und sehen Sie, DAS ist meine Chance. Sie kommen einzeln hier hervor, legen Ihr Geld und Ihren Schmuck vor mich hin und setzen sich wieder auf Ihren Platz. Sie würden das nicht tun? Das ist sehr bedauerlich. Aber das erhöht die Spannung. Sie werden nämlich nicht wissen, wann es losgeht. Nein, nicht die Vorstellung! Der Besondere - wie heißt er denn noch? - ist unpässlich für eine Weile. Nicht ganz bei sich. Das kennt man doch. Und wenn er wieder fit ist, wird es ihm auch nichts nützen. Er wird sich nicht rühren können. Er wird dasitzen, schreien, aber man hört es nicht. Nein, selbst Sie hier in der ersten Reihe nicht. Er schreit so gedämpft. Dafür habe ich gesorgt. Ihnen geht es da besser. Sie können schreien. Nur rühren sollten Sie sich nicht zu heftig. Sonst muss ich mich auch bewegen. Und dann macht mein Kumpel einen kleinen Fehler. Ich hab Ihnen meinen Partner noch nicht vorgestellt? Drehen Sie sich ruhig um. Der Riese an der Tür ist es. Sprengmeister. Ein zuverlässiger Arbeiter. Kein Seelchen, wenn Sie wissen, was ich meine. Und sollte er nervös werden, weil ich nervös werde... sind wir alle hin. Spannend, was? Aber ich werde ja nicht nervös. Sie müssen nur heraufkommen, einer nach dem anderen. Sehen Sie, das ist meine Chance. - Ach, das ist ja drollig, das ist auch Ihre Chance!